Deutschlands und Europas größter jüdischer Friedhof: Nazis schreckten vor Schändung und Zerstörung zurück.  Wer in Berlin-Weißensee, einem Ortsteil des Bezirks Pankow, die Indira-Gandhi-Straße entlang fährt, kommt an einer langen, einer sehr langen steinernen Mauer mit jüdischen Symbolen vorbei. Sie wird durch mehrere schmiedeeiserne Tore unterbrochen, so dass man einen alten, sehr alten Friedhof erkennen kann. Haben hier die Nazis, die ja sonst alle jüdischen Friedhöfe schändeten und zerstörten, etwas „vergessen“ oder „übersehen“?

Jüdischer Friedhof Weissensee Berlin

Eingang zum Jüdischen Friedhof ,Foto: Will

Historie und Gegenwart

So ist es – und selbst nach intensivsten, allumfassenden Recherchen lässt sich das nur „in etwa“ erklären: Dieser 1880 angelegte Friedhof der jüdischen Gemeinde Berlins blieb verwaltungsmäßig in jüdischer Hand und bildete sogar noch 1940 Juden zu Gärtnern aus, damit die vielleicht nach der Auswanderung in der neuen Heimat eine Existenzgrundlage hatten. Hermann Simon vom Centrum Judaicum Berlin spekulierte einmal, die schiere Weite dieses Friedhof habe möglicherweise abschreckend gewirkt – er misst immerhin 42 Hektar oder: er ist etwa einen Kilometer lang und einen halben breit. Eine abenteuerlich klingende Version hat der Holocaust-Überlebende Harry Kindermann (geboren 1927). Er hat an dem Film „Im Himmel, unter der Erde“ mitgewirkt, der sich mit der Geschichte des Weißenseer Friedhofes beschäftigt. In diesem Dokumentarfilm erklärt Kindermann, die Nazis hätten an einen Golem geglaubt. Kindermann wörtlich: „Dieser jüdische Friedhof war bei den Nazis in einen gewissen Aberglauben eingebettet. Das heißt, scheinbar gingen die Gerüchte um, dass da irgendwie was nicht in Ordnung ist. Da ist so ein Geist, so ein Golem – das ist nicht ganz koscher. Und das war der Hauptgrund, warum kein Militär und keine Polizei den Friedhof betreten haben, und deshalb ist praktisch das alles erhalten geblieben. Überlegen Sie mal, wie viele jüdische Friedhöfe geschändet wurden. Hier ist überhaupt nichts passiert“.

Zeugnis deutsch – jüdischer Geschichte

Und so gibt es mitten in der deutschen Hauptstadt ein bewegendes, unvergleichliches architektonisch-religiöses Zeugnis deutscher Geschichte: Aufgrund des starken Wachstums der jüdischen Bevölkerung Berlins in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Friedhof an der Schönhauser, Allee, den die jüdische Gemeinde Berlins seit 1827 genutzt hatte, zu klein. Sie kaufte deshalb 42 Hektar „Wildfläche“ im Vorort Weißensee. Schon damals offensichtlich florierte, was auch das heutige Berlin zu oft lähmt – eine wuchernde Bürokratie. Es gab Ausschreibung nach Ausschreibung, Plan nach Plan, Ablehnung und Verwerfung zu Hauff. Schließlich einigte man sich auf ein Vorhaben, das der Architekt Hugo Licht eingereicht hatte. Sein Projekt enthielt einen Bebauungsplan des gesamten Geländes einschließlich Trauerhalle, Leichenschauhaus, ein Bürogebäude für die Verwaltung und eine Ummauerung von fast drei Kilometer Länge samt eisernem Eingangstor. Zwei Jahre lang wurde gebaut. Am 9. September 1880 wurde der Friedhof eingeweiht. Knapp zwei Wochen später wurde Louis Grünbaum als Erster auf dem neuen Friedhof beigesetzt. Heute gibt es 116.000 Grabstellen. Jüdische Friedhöfe zeichneten sich in der Regel durch einfach gehaltene Grabstätten aus. Das änderte sich in Weißensee. Hier sollte die gelungene und geförderte Integration der Juden in die kaiserliche Gesellschaft auch nach dem Tod dokumentiert werden, und so entstanden – wie auf christlichen Friedhöfen üblich – prächtige Grabmale wohlhabender Juden Berlins. Sie enthielten neben hebräischen auch deutsche Inschriften, nicht selten sogar nur letztere.

Jüdischer Friedhof Weissensee Berlin

Gedenken an die sechs Millionen Opfer des Holocaust Foto: Will

Wer den gesamten Friedhof „erwandern“ will, benötigt dafür mehr als vier Stunden. Aber schon der Gang durch zwei, drei der  Gänge vermittelt einen bleibenden Eindruck: Der Friedhof ist ein einziger Dschungel. Ein Urwald. Die Natur dominiert, auch über Jahrhundert alte Grabmäler. Die Sonne bemüht sich, die ausufernden Baumwipfel zu durchdringen. Geradezu schrill wirken ihre Strahlen, wenn sie durchkommen.

Ein Friedhof – der lebt und erzählt

Nahe der Mauer der heutigen Indira-Gandhi-Straße wurde 1914 ein Ehrenfeld für im Ersten Weltkrieg gefallene jüdische Soldaten angelegt. Diese Grabsteine sind sehr schlicht und vielfach mit Efeu bewachsen. Zudem gibt es ein 1927 eingeweihtes Ehrenmal für die Gefallenen – einen drei Meter hohen Monolithen aus Muschelkalk. Auch wenn die Nazis den Friedhof ungeschoren ließen, sind sie auf ihm doch gegenwärtig. So erreichten die Bestattungen mitten im Krieg – 1942 – einen Höhepunkt, wurden hier doch fast 2.000 Juden beigesetzt, die sich das Leben genommen hatten – um Verfolgung, Terror und KZ zu entgehen. Hinzu kommt ein Grabfeld mit der Asche von mehr als 800 Juden, die in Konzentrationslagern ermordet worden waren. Bemerkenswert für diese Zeit auch dies: In der 1910 errichteten Neuen Feierhalle versteckten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Berlins im Frühjahr 1943 fast 600 Thorarollen. 90 von ihnen fielen Brandbomben zum Opfer. Die restlichen wurden bis zum Ende des Krieges in einem Keller unter der Blumenhalle versteckt und ab 1946 an verschiedene Synagogen verschenkt.

Jüdischer Friedhof Weissensee Berlin

riedhof Foto: Will

Die Spaltung Berlins hinterließ natürlich ihre Spuren – der Weißenseer Friedhof wurde für West-Berliner unzugänglich, so dass der jüdische Friedhof an der Heerstraße eröffnet wurde. Da die jüdische Gemeinde im Ostsektor äußerst klein war und im Übrigen Grabpflege nicht zu jüdischen Traditionen gehört, machte Weißensee im Laufe der Zeit einen immer tristeren Eindruck: Juden kennen keinen Blumenschmuck, Grabstätten überwuchern, Grabsteine verfallen. Grabstätten dürfen auch niemals eingeebnet werden.

Immerhin: Die Ostberliner Verwaltung gab dem Friedhof den Status eines Denkmals. Die Grabstätten bedeutender Menschen wurden und werden erhalten und gepflegt. Dazu gehören etwa die Grabstätten der Verlegerfamilie Fischer, deren Unternehmen auf das Gründungsjahr 1886 zurückgeht, oder das Grab des Malers und Grafikers Lesser Ury. Andere bekannte Namen: Berthold Kempinski (Hotels), Oscar und Hermann Tietz (Kaufhäuser) sowie Theodor Wolff (Schriftsteller und Journalist).

Wikipedia nennt eine Reihe wichtiger Persönlichkeiten, die auf dem Jüdischen Friedhof Weissensee bestattet worden sind.

Fotos : Wolfgang Will

Informationen

Der Eingang zum Friedhof befindet sich in der Herbert-Baum-Straße 45 (13088 Berlin), diese geht ab von der Berliner Allee in Weißensee.

Öffnungszeiten:

1. April bis 30. September: Montag bis Donnerstag 7.30 bis 17 Uhr, Freitag 7.30 bis 14.30 Uhr, Sonntag 8 bis 17 Uhr
1.Oktober bis 31.März: Montag bis Donnerstag 7.30 bis 16 Uhr, Freitag 7.30 bis 14.30 Uhr, Sonntag 8 bis 16 Uhr, Schabbat (Samstag) und Feiertage geschlossen
Hoemepage: www.jewish-cemetery-weissensee.org
Öffnungszeiten
1. April bis 30. September: Montag bis Donnerstag 7.30 bis 17 Uhr, Freitag 7.30 bis 14.30 Uhr, Sonntag 8 bis 17 Uhr
1.Oktober bis 31.März: Montag bis Donnerstag 7.30 bis 16 Uhr, Freitag 7.30 bis 14.30 Uhr, Sonntag 8 bis 16 Uhr, Schabbat (Samstag) und Feiertage geschlossen
Wichtig:
Männer sollten bei Besuchen des Jüdischen Friedhofs Weißensee ihren Kopf bedecken. Am Eingang werden leihweise Kippas zur Verfügung gestellt.
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